Nichts ist für uns klarer, selbstverständlicher und erfahrbarer, als dass die Zeit gleichmässig verrinnt. Von der Vergangenheit in die Zukunft. Doch wer versucht, vor dem Spiegel zu verfolgen, wie der Blick von einem Auge zum anderen wandert, merkt, dass unser Gehirn unser Zeitempfinden sehr phantasievoll manipuliert. Wir sehen keine Augenbewegung, diese Zeitspanne wird einfach ausgelöscht. Aber es kommt noch heftiger. Da die wichtigste Aufgabe unseres Gehirns darin besteht, ein konsistentes Bild der Welt zu liefern, muss es permanent Sinneswahrnehmungen zeitlich verschieben: Unsere Augen sehen etwa wie unser Fuss berührt wird, diese Wahrnehmung muss jedoch warten, bis das langsamere Berührungssignal im Gehirn gelandet ist. Die Folge: Wir leben tatsächlich etwa 1/10 Sekunde in der Vergangenheit. Und grosse Menschen de facto noch mehr. Länger dürfte die Zeitlücke nicht sein, sonst hätte uns der Tiger gefressen, bevor wir merken, dass er da ist. In Experimenten lässt sich das Gehirn sogar so weit bringen, dass es Ursache und Wirkung umdreht: Wir erleben, dass etwas bereits passiert bevor wir es auslösen. Vielleicht ist das Zeitempfinden nur eine Konstruktion unseres Gehirns. Was dann? Die Stunde Zeitumstellung spielt dann jedenfalls keine Rolle mehr.
Die Physik ist schon längst an diesem Punkt. Sie kennt keine absolute Zeit. Schon die Frage, wie schnell die Zeit denn vergehe, führt die Naturwissenschaft in die Absurdität. Mit einer Sekunde pro Sekunde etwa? Die physikalischen Gleichungen der Relativitätstheorien beschreiben, dass sich spätere Zustände der Welt von früheren unterscheiden lassen, einen besonders ausgezeichneten gegenwärtigen Moment oder einen Fluss der Zeit gibt es aber nicht. Ist die Zeit also einfach nur eine Konstruktion, damit nicht alles auf einmal da ist? Zeit als etwas, das die Beschreibung der Welt erleichtert, aber nicht eigenständig existiert? Klingt alles sehr verrückt – auch für viele Physikerinnen und Physiker. In der Gemeinde tobt daher ein Streit, ob die aktuelle Weltbeschreibung nicht Wesentliches unterschlägt.
In «Die Abschaffung der Zeit» startet «nano» auf eine filmische Reise, die schwindelig macht. Das vermeintliche sichere Fundament unseres Zeitgefühls wird infrage gestellt: Mit Versuchen, die unsere Wahrnehmung von Ursache und Wirkung umdrehen, sowie Methoden, wie etwa Meditation, die jegliches Zeitempfinden ausschalten können.
Und was folgt daraus, wenn sich der Zeitfluss tatsächlich als Illusion entlarven lässt? Vielleicht müssten wir uns dann nicht länger Sorgen um die Zukunft machen oder die Vergangenheit betrauern. Wäre doch was.
Autor: Ingolf Baur
Nano wurde auf SRF ausgestrahlt am Freitag 4 Juni 2021, 10:10 Uhr.