Die meisten Menschen kennen das kleine Bündner Bergdorf Mulegns wahrscheinlich nur als verkehrstechnisches Nadelöhr auf dem Weg über den Julierpass ins Oberengadin. Keine Schule, kein Laden, keine Post: Der Ort ist vom Aussterben bedroht. Gerade mal 19 Menschen wohnen noch dort.
Ins Auge sticht lediglich das spätklassizistische Gebäude des Posthotels Löwe. Heute macht es einen baufälligen Eindruck, doch es hat einst glanzvolle Tage gesehen. Wer vor mehr als 100 Jahren mit der Kutsche ins Engadin reiste, machte hier über Nacht Station. In den Eintragungen der alten Gästebücher finden sich so prominente Namen wie Albert Schweitzer, Wilhelm C. Röntgen und Princess Mary, Urgrossmutter von Queen Elisabeth II. Russischer und britischer Adel gaben sich einst hier die Klinke in die Hand.
Das Posthotel ist zwar noch in Betrieb, doch es bröckelt bedenklich. Sollen die repräsentativen Räume wie der festliche Speisesaal in ihrem Originalzustand erhalten werden, muss jetzt gehandelt werden. Es ist fünf vor zwölf.
Giovanni Netzer, der umtriebige Gründer und Leiter des Origen-Festivals in Graubünden, hat eine Rettungsaktion für Mulegns ins Leben gerufen. In einem ersten Schritt soll das Posthotel mit Fördergeldern und privaten Spenden angekauft und mit Handwerkern aus der Gegend saniert werden. Auch die einst feudale Weisse Villa neben dem Posthotel will Netzer retten. Letztlich geht es darum, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Für dauerhaften Auftrieb soll sodann ein Kulturbetrieb sorgen: Theateraufführungen, Ausstellungen, Führungen. Diesen Sommer bereits kommt im Löwen eine alte Sage neu interpretiert zur Aufführung. Den historischen Schriften und Korrespondenzen des Hotels nimmt sich derzeit der Historiker Basil Vollenweider an. Eine Fotoausstellung entsteht, und die ETH Zürich ist dabei, ein Gebäude aus dem 3-D-Drucker zu konzipieren, das in einem nächsten Schritt auf Mulegns’ Parkplatz zu stehen kommen soll – als permanenter, moderner Ausstellungsraum im geschichtsträchtigen Örtchen.
So utopisch diese Pläne vorerst anmuten mögen, Giovanni Netzer hat schon in Riom bewiesen, dass Kultur einem Bergdorf zu neuem Leben verhelfen kann. Sein Origen-Festival mit Uraufführungen macht seit zehn Jahren von sich reden, seine Theaterarbeit wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Hans Reinhart-Ring. Sein Beitrag zur Aufwertung des Dorfes erhielt 2019 den Wakkerpreis. Gemeinsam mit Martin Leuthold, dem ehemaligen Chefdesigner der berühmten Stoffmanufaktur Jakob Schlaepfer, hat er Kostümwerkstätten und Textilateliers gegründet und damit neue, dauerhafte Arbeitsplätze geschaffen.
«Kulturplatz» sondiert mit Giovanni Netzer vor Ort in Mulegns und in Riom. Wir treffen Dorf-Originale, schauen in die Werkstätten, sind bei Proben dabei, wühlen uns durch die Historie und gehen der Frage nach, ob und warum ein 19-Seelen-Dorf unbedingt fortbestehen soll.
Kulturplatz wurde auf SRF ausgestrahlt am Donnerstag 6 Juni 2019, 06:34 Uhr.