Der Countdown für den diesjährigen «Eurovision Song Contest», den grössten internationalen Musikwettbewerb, läuft. Doch schon Wochen, bevor Luca Hänni für die Schweiz gegen die internationale Konkurrenz antritt, hat es in Israel zu brodeln begonnen.
Eine palästinensisch organisierte, internationale Boykottbewegung sieht den «ESC» in Israel als Steilvorlage für die eigene Sache und legt sich quer. Der Palästinenser Omar Barghouti, einer der Gründer der Bewegung, proklamiert: «Wir rufen zum Boykott auf, weil der ‘ESC’ eine Form von ‘Art Washing’ ist. Israel will sich mit Musikkultur eine weisse Weste verschaffen. Es will sich befreien vom Makel seiner Apartheidpolitik, jahrzehntelanger militärischer Besatzung und dem Siedlungskolonialismus.» Auch in vielen Teilnehmerländern machen harsche Israelkritiker bereits seit Längerem mobil. Es ist zu befürchten, dass radikale Palästinenser versuchen werden, diese Gelegenheit auszunützen, um der Weltöffentlichkeit ihre einseitige Sicht der Dinge aufzudrängen.
Der erwartete touristische Grossandrang in Tel Aviv verursacht zusätzliches Kopfzerbrechen. Besonders für Menschen mit arabischen Wurzeln oder arabischen Stempeln im Pass kann die Einreise nach Israel zum Spiessrutenlauf werden. Manche Kandidaten, wie der italienische Teilnehmer Mahmood, Sohn eines Ägypters, könnten da ernste Probleme bekommen. Oben drauf kommen organisatorische Probleme. Auf Druck der Orthodoxen gilt auch in Tel Aviv am Sabbat jeweils ein Fahrverbot für die Stadtbusse. Für den Finaldurchgang am Samstag droht ein logistisches Chaos.
Dabei möchte das offizielle Israel den Anlass nutzen, um sich als tolerante, weltoffene Gesellschaft zu präsentieren. Bunte Vielfalt, verschiedene Lebensstile, Offenheit gegenüber anderen, all das soll der «ESC» widerspiegeln. Die Gastgeber in Tel Aviv verkünden zudem das Motto «Dare to dream», also «Wage zu träumen». Entsprechend gross ist die Vorfreude in der lebens- und festfreudigen Kulturszene Tel Avivs.
Doch der kürzliche Wahlkampf in Israel hat eben erst wieder aufgezeigt, wie angespannt die politisch-gesellschaftliche Stimmung tatsächlich ist. Das neuerliche Aufflackern von Provokationen und tödlichen Schusswechseln an der Grenze zu Gaza weckt zusätzliche Bedenken.
Kann der «ESC» in einem Land, das sich im Dauerkonflikt mit seinen arabischen Nachbarn und der palästinensischen sowie arabischen Bevölkerung befindet, unbeschwert und glaubhaft die Vielfalt feiern? Wer wagt es, nach mehr als 70 Jahren Hass und Misstrauen noch zu träumen? Die inneren Konflikte und Widersprüche des Landes könnten beim «ESC» wie unter einem Brennglas ins Zentrum der europäischen Aufmerksamkeit geraten und in ein PR-Desaster für Israel münden.
Berechtigte Israelkritik oder versteckter Antisemitismus? Thomas Meyer, der Autor des Bestsellers und Kinohits «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse», spricht mit Eva Wannenmacher über seine persönliche Sicht der Dinge aus der Position eines liberalen Schweizer Juden.
Kulturplatz wurde auf SRF ausgestrahlt am Mittwoch 8 Mai 2019, 23:14 Uhr.